Erich Nehlhans    
                       
  Nehlhans, Erich, * 12.02.1899 Berlin, † vermutl. 1953 (verschollen) UdSSR, erster Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin nach 1945.
Er überlebte die Zeit der nationalsozialistischen Judenverfolgung illegal in Berlin. Im Mai 1945 war er Mitbegründer und erster Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg. In jener Zeit verhalf Nehlhans, der in der Prenzlauer Allee 35 wohnte, vielen verfolgten Juden aus Osteuropa zur Flucht über die West-Sektoren nach Palästina und die USA, darunter auch jüdischen russischen Soldaten. Das wurde ihm zum Verhängnis. Im März 1948 wurde er vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet und am 4.8.1945 zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. Nach der Internierung im ehemaligen KZ Sachsenhausen verlieren sich seine Spuren in der Sowjetunion. 1997 wurde er von einem russischen Militärgericht vollständig rehabilitiert. Als Todesjahr wird 1953 vermutet. Am Haus Prenzlauer Allee 35 ist für ihn eine Gedenktafel angebracht
                       
                       
    Gad Beck erinnert sich an Erich Nehlhans

aus dem Buch "Und Gad ging zu David"
 

Wir saßen zusammen und aßen zu Abend, meine Eltern, Margot und ich. Plötzlich klopfte es leise an die Tür, und Erich Nehlhans kam herein. Er, sonst so elegant, sah abgerissen und schmutzig aus und war noch bedächtiger und stiller als sonst. "Die Nazis haben etwas Furchtbares getan", sagte er, "sie sind in den Tempel gekommen und haben dort gehaust. Ich weiß noch nicht, wieviel kaputtgegangen ist, aber das Haus steht noch. Ich habe gehört, so etwas passiert überall!"
Es war der Abend des 9. November 1938. Die randalierenden Horden hatten die Synagoge in der Heidereutergasse gestürmt, aber da ein Teil des Gebäudes kurz zuvor an die Post vermietet worden war, kam die Polizei und stellte sich dazwischen: die Räume der Post mußten schließlich geschützt werden. So wurde "nur" der große Saal der Synagoge zerstört. Der Tempel konnte noch zum Gottesdienst genutzt werden, ich selber ging bis Anfang der vierziger Jahre dorthin; man nahm einfach den kleineren Raum. Erich Nehlhans berichtete uns fast beschwichtigend von diesem bisher schlimmsten Übergriff der Nazis.
Am nächsten Morgen fuhr ich wie immer zu Barkowsky. Als ich aus der U-Bahn kam, packte mich das Entsetzen: Die ganze Badstraße ist ja kaputt! Später, nach Fliegerangriffen, erinnerte mich der Anblick mancher Straßen fatal an diesen Tag. Bisher war mir gar nicht bewußt gewesen, was alles Juden gehörte und was nicht. Der berühmte Hemden-Matz, Bata und Etam, Salamander mit seinem jüdischen Geschäftsführer, hie ein Bekleidungsgeschäft, da meine Barkowskys, große und kleine Namen, alles Juden, alles verwüstet.
In dieser Nacht zerstörten die Schlägertrupps über 250 Synagogen, 7 500 Läden, zahlreiche Wohnhäuser, Gemeindehäuser und Friedhöfe. Knapp hundert Juden wurden ermordet, Hunderte in den Tod getrieben und 35 000 verhaftet und verschleppt.
Barkowskys Geschäft bestand aus einem langgezogenen Verkaufsraum, die Kleider hingen an den seitlichen Wänden. Als ich an jenem Morgen über die Glassplitter der eingeschlagenen Ladentür hinweg eintrat, lag die ganze Ware auf dem Boden. Der ältere Verkäufer, mit dem ich zusammenarbeitete, sagte voll finsterer Gelassenheit zu mir: "Räum die Sachen erst mal zurück, häng alles wieder auf, das ist nicht die Hälfte von dem, was wir noch auf Lager hatten." Nun war das nicht ganz einfach, denn die Hemden und Hosen und Jacken waren ... voller Scheiße! Die Vandalen hatten alles gründlich besudelt und beschmiert. So absurd es klingt, ich hängte die Sachen trotzdem auf, es stank erbärmlich.
Dann wurde ich zu Salamander auf die gegenüberliegende Straßenseite geschickt. Um die zertrümmerten Scheiben der Schaufenster und der Tür notdürftig zu reparieren, brauchten wir Holzlatten. Da unsere Kleider immer in Pappkartons geliefert wurden, hatten wir aber keine; Salamander kriegte die Schuhe in Holzkisten, die man auseinandernehmen konnte. "Also hol mal welche bei deinem Freund von gegenüber!"
Bei Salamander arbeitete nämlich ein stämmiger kleiner Lehrling, auch ein Jude, mit Berliner Schnauze, der war mir schon lange aufgefallen; leider hatten wir nie etwas miteinander. "Ihr braucht Holz? Kann ick dir jehm", meinte er und zeigte auf die Regale. "Weeßte, die ham hier jeklaut wie die Raben. Aber keene Paare, bloß Einzelschuhe ham se mitjenommen, wat wollten die bloß damit?" Wir lachten, ich packte mir ein paar Kisten unter den Arm und wollte gehen, da fügte er noch hinzu: "Allet andere ham se volljeschissen. Aba eens wundert mir: Wat muß die sa jefressen ham, um so scheißen zu können!"

So habe ich die schreckliche "Reichskristallnacht" erlebt. Ich kann nicht in den Chor einstimmen, ich hätte überall brennende Synagogen gesehen. Wenn alle Juden, die das heute erzählen, wirklich davor gestanden hätten, dann wäre in jener Nacht das gesamte deutsche Judentum auf den Beinen gewesen. Ich bin überzeugt, wer draußen war, ist so schnell wie möglich nach Hause gerannt, als es losging.
Und Jahr für Jahr schaue ich mir an, wie man in Deutschland den 9. November begeht, mit Bürgermeistern und Honoratioren, alle stehen sie da mit todernster Miene, halten das Köpfchen schief und gucken so traurig drein, als ob ihnen was weggekommen wäre. Jedes Jahr dieselben Worte, egal, von welcher Partei - und ich rieche nur die Scheiße und höre den schnoddrigen Satz des Lehrlings.
Was die "jefressen" hatten, war uns damals relativ klar. Die Pogrome hatten überall zur selben Zeit begonnen; von einer spontan "kochenden Volksseele", wie Goebbels es nachher nannte, konnte nicht die Rede sein. Die meisten Täter gehörten zur sa, die hatten wir bei Aufmärschen und Angriffen gegen einzelne Juden schon als äußerst unfeine Leute kennengelernt, und in jener Nacht waren sie auch noch volltrunken, bereitwillige Instrumente einer wohlberechneten Willkür, die auf uns wie eine unberechenbare Bedrohung wirkte. Vollkommen außer Zweifel stand aber, daß die Nazis Herschel Grynszpans Pariser Attentat auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath zum Vorwand nahmen, um die Juden endgültig aus dem deutschen Wirtschaftsleben zu drängen.
Zu Barkowsky kam noch eine ganze Reihe treuer Kunden. Vorne zur Straße hin hatten wir alles vernagelt, aber über den Hof, in dem ein kleines Kino war, konnte man auch ins Geschäft. Die Leute sagten ohne Umschweife: "Jetzt machen Sie's aber ein bißchen billiger, nicht?" Die Hälfte der Lagerbestände konnten wir noch absetzen, bis Ende Dezember lief der Räumungsverkauf, wenn man es so nennen will. Offiziell erlaubt war das natürlich nicht.
In den nächsten Monaten erging eine Unmenge von Verordnungen, mit denen den Juden in Deutschland ihre normale, bürgerliche Existenz praktisch unmöglich gemacht wurde: Radios, Telefone, Wertsachen wurden beschlagnahmt, wir durften keine Geschäfte mehr führen, der Kauf von Büchern und Zeitungen, der Besitz von Fahrzeugen wurde verboten, die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel und das Einkaufen von Lebensmitteln eingeschränkt. Die Nazis führten den "Judenbann" ein, das heißt, die Juden durften bestimmte Straßen, Orte, Einrichtungen in der Stadt (wie Theater, Kinos oder Badeanstalten) nicht mehr betreten. Wer keinen jüdischen Vornamen besaß, mußte den Zusatznamen "Sara" bzw. "Israel" annehmen, und in den Paß wurde ein J gestempelt. Der Zutritt zu "arischen" Schulen, Hochschulen und anderen Bildungsstätten wurde völlig verboten, ebenso eine Vielzahl jüdischer Organisationen. Und wenig das, für die Reparatur dessen, was verwüstet worden war, mußten die Juden auch noch zahlen - dazu als "Sühne" eine Milliarde Reichsmark an die deutsche Regierung. Ein "Arbeitsamt für Juden" wurde eröffnet, um dirigieren zu können, wo und unter welchen Bedingungen wir von nun an arbeiteten.

Erich Nehlhans hatte sich in den letzten Jahren einen kleinen Versandhandel für Postkarten aufgebaut, mit Kunden im Umland von Berlin. Einmal im Jahr besuchte er alle und nahm ihre Bestellungen auf, auch 1938. Jetzt wußte er, im nächsten Jahr würde er nicht mehr fahren können. Also schickte er allen Kunden, die Karten bei ihm bestellt hatten - zwölf Brandenburger Tor zum Beispiel -, statt des bestellten Dutzends gleich zehn Dutzend, dazu einen Brief: "Im nächsten Jahr werde ich Sie nicht mehr beliefern können." Tatsächlich kauften die allermeisten seiner Kunden auf Vorrat bei ihm ein und bezahlten brav die Rechnung - welch glimpfliche Form der Geschäftsauflösung. "Typisch jüdisch", lachte meine Mutter, halb bewundernd.
Gegen Ende des Jahres, als Barkowsky endgültig zumachte, meinte Nehlhans zu mir: "Gerhard, ich habe neulich mit einem Vetter gesprochen, der ist Vertreter für eine deutsche Kartonagenfabrik, und er sagte, schick den Kleenen mal vorbei, der könnte für uns passend sein." So landete ich bei Alfred Lindau.
Die Firma Lindau war mein erster richtiger Arbeitsplatz, nicht weit von zu Hause; mit geringem Lohn, aber auf jeden Fall war es mehr, als ich zum Schluß bei Barkowsky bekommen hatte. Kartonherstellung ist eine primitive Form der Fabrikarbeit, und dementsprechend waren auch die anderen Arbeiter. Die Leute, denen ich dort begegnete, kamen mir größtenteils leicht debil und ungeheuer amoralisch vor. Ihr Leben war langweilig, ihre Arbeit genauso, fast alle waren junge Menschen, und sie hatten nur eins im Kopf: Bumsen.
Ich mußte Kartons falzen oder nieten, Fächer aussägen und ähnliches. Klein, sportlich und wendig, erledigte ich all das besonders schnell; die Kollegen unterbrachen manchmal ihre Arbeit, um sich den Kleinen anzuschauen. Ich war beliebt bei ihnen. Lindau, der Chef, war ein typischer Berliner, freundlich und ebenso schlicht wie sein Personal. Er packte kräftig mit an und trug oft selber die schweren Stapel Pappen, aus denen die Kartons gefertigt wurden.
Es gab dort einen Jungen, der sich mir besonders eingeprägt hat. Er hieß Herbert, sah ganz fesch aus und lebte nur für den Sex. Er kam schon morgens geil an und verkündete lauthals: "Guckt mal, heute morgen ist mein Schwanz wieder gar nicht zu bändigen!" Und wann immer sich eine Gelegenheit ergab, ging's zur Sache. Von den vier oder fünf Mädchen, die bei Lindau arbeiteten, bedrängte er pro Tag nicht nur eine. Auch unter den Männern wurde kräftig gefummelt, und wenn Herbert gerade danach war, kam ich genauso an die Reihe.
Mir ging es ähnlich wie den Mädchen: Ich fand ihn zu grob, und das Ganze war mir unangenehm. Zu der Zeit war ich noch recht unerfahren, und Zärtlichkeit entspricht mir sowieso mehr. Wenn er sich auf den Pappen im Keller wieder ein Opfer vornahm, flossen oft Tränen.
Das störte ihn wenig; er wußte, die Männer untereinander hielten zusammen. Es wäre zwecklos gewesen, wenn ich mich beschwert hätte. Lindau wußte bestimmt, was da lief - immer wenn er nach unten ging, pfiff er vorher, zur Warnung -, aber er griff niemals ein. Er mochte ein gutes Herz haben, feinfühlig war er nicht gerade.
 

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