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Gad Beck
erinnert sich an Erich Nehlhans
aus dem Buch "Und Gad ging zu David"
Wir saßen zusammen und
aßen zu Abend, meine Eltern, Margot und ich. Plötzlich klopfte es leise an
die Tür, und Erich Nehlhans kam herein. Er, sonst so elegant, sah abgerissen
und schmutzig aus und war noch bedächtiger und stiller als sonst. "Die Nazis
haben etwas Furchtbares getan", sagte er, "sie sind in den Tempel gekommen
und haben dort gehaust. Ich weiß noch nicht, wieviel kaputtgegangen ist,
aber das Haus steht noch. Ich habe gehört, so etwas passiert überall!"
Es war der Abend des 9. November 1938. Die randalierenden Horden hatten die
Synagoge in der Heidereutergasse gestürmt, aber da ein Teil des Gebäudes
kurz zuvor an die Post vermietet worden war, kam die Polizei und stellte
sich dazwischen: die Räume der Post mußten schließlich geschützt werden. So
wurde "nur" der große Saal der Synagoge zerstört. Der Tempel konnte noch zum
Gottesdienst genutzt werden, ich selber ging bis Anfang der vierziger Jahre
dorthin; man nahm einfach den kleineren Raum. Erich Nehlhans berichtete uns
fast beschwichtigend von diesem bisher schlimmsten Übergriff der Nazis.
Am nächsten Morgen fuhr ich wie immer zu Barkowsky. Als ich aus der U-Bahn
kam, packte mich das Entsetzen: Die ganze Badstraße ist ja kaputt! Später,
nach Fliegerangriffen, erinnerte mich der Anblick mancher Straßen fatal an
diesen Tag. Bisher war mir gar nicht bewußt gewesen, was alles Juden gehörte
und was nicht. Der berühmte Hemden-Matz, Bata und Etam, Salamander mit
seinem jüdischen Geschäftsführer, hie ein Bekleidungsgeschäft, da meine
Barkowskys, große und kleine Namen, alles Juden, alles verwüstet.
In dieser Nacht zerstörten die Schlägertrupps über 250 Synagogen, 7 500
Läden, zahlreiche Wohnhäuser, Gemeindehäuser und Friedhöfe. Knapp hundert
Juden wurden ermordet, Hunderte in den Tod getrieben und 35 000 verhaftet
und verschleppt.
Barkowskys Geschäft bestand aus einem langgezogenen Verkaufsraum, die
Kleider hingen an den seitlichen Wänden. Als ich an jenem Morgen über die
Glassplitter der eingeschlagenen Ladentür hinweg eintrat, lag die ganze Ware
auf dem Boden. Der ältere Verkäufer, mit dem ich zusammenarbeitete, sagte
voll finsterer Gelassenheit zu mir: "Räum die Sachen erst mal zurück, häng
alles wieder auf, das ist nicht die Hälfte von dem, was wir noch auf Lager
hatten." Nun war das nicht ganz einfach, denn die Hemden und Hosen und
Jacken waren ... voller Scheiße! Die Vandalen hatten alles gründlich
besudelt und beschmiert. So absurd es klingt, ich hängte die Sachen trotzdem
auf, es stank erbärmlich.
Dann wurde ich zu Salamander auf die gegenüberliegende Straßenseite
geschickt. Um die zertrümmerten Scheiben der Schaufenster und der Tür
notdürftig zu reparieren, brauchten wir Holzlatten. Da unsere Kleider immer
in Pappkartons geliefert wurden, hatten wir aber keine; Salamander kriegte
die Schuhe in Holzkisten, die man auseinandernehmen konnte. "Also hol mal
welche bei deinem Freund von gegenüber!"
Bei Salamander arbeitete nämlich ein stämmiger kleiner Lehrling, auch ein
Jude, mit Berliner Schnauze, der war mir schon lange aufgefallen; leider
hatten wir nie etwas miteinander. "Ihr braucht Holz? Kann ick dir jehm",
meinte er und zeigte auf die Regale. "Weeßte, die ham hier jeklaut wie die
Raben. Aber keene Paare, bloß Einzelschuhe ham se mitjenommen, wat wollten
die bloß damit?" Wir lachten, ich packte mir ein paar Kisten unter den Arm
und wollte gehen, da fügte er noch hinzu: "Allet andere ham se
volljeschissen. Aba eens wundert mir: Wat muß die sa jefressen ham, um so
scheißen zu können!"
So habe ich die schreckliche "Reichskristallnacht" erlebt. Ich kann nicht in
den Chor einstimmen, ich hätte überall brennende Synagogen gesehen. Wenn
alle Juden, die das heute erzählen, wirklich davor gestanden hätten, dann
wäre in jener Nacht das gesamte deutsche Judentum auf den Beinen gewesen.
Ich bin überzeugt, wer draußen war, ist so schnell wie möglich nach Hause
gerannt, als es losging.
Und Jahr für Jahr schaue ich mir an, wie man in Deutschland den 9. November
begeht, mit Bürgermeistern und Honoratioren, alle stehen sie da mit
todernster Miene, halten das Köpfchen schief und gucken so traurig drein,
als ob ihnen was weggekommen wäre. Jedes Jahr dieselben Worte, egal, von
welcher Partei - und ich rieche nur die Scheiße und höre den schnoddrigen
Satz des Lehrlings.
Was die "jefressen" hatten, war uns damals relativ klar. Die Pogrome hatten
überall zur selben Zeit begonnen; von einer spontan "kochenden Volksseele",
wie Goebbels es nachher nannte, konnte nicht die Rede sein. Die meisten
Täter gehörten zur sa, die hatten wir bei Aufmärschen und Angriffen gegen
einzelne Juden schon als äußerst unfeine Leute kennengelernt, und in jener
Nacht waren sie auch noch volltrunken, bereitwillige Instrumente einer
wohlberechneten Willkür, die auf uns wie eine unberechenbare Bedrohung
wirkte. Vollkommen außer Zweifel stand aber, daß die Nazis Herschel
Grynszpans Pariser Attentat auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath zum
Vorwand nahmen, um die Juden endgültig aus dem deutschen Wirtschaftsleben zu
drängen.
Zu Barkowsky kam noch eine ganze Reihe treuer Kunden. Vorne zur Straße hin
hatten wir alles vernagelt, aber über den Hof, in dem ein kleines Kino war,
konnte man auch ins Geschäft. Die Leute sagten ohne Umschweife: "Jetzt
machen Sie's aber ein bißchen billiger, nicht?" Die Hälfte der Lagerbestände
konnten wir noch absetzen, bis Ende Dezember lief der Räumungsverkauf, wenn
man es so nennen will. Offiziell erlaubt war das natürlich nicht.
In den nächsten Monaten erging eine Unmenge von Verordnungen, mit denen den
Juden in Deutschland ihre normale, bürgerliche Existenz praktisch unmöglich
gemacht wurde: Radios, Telefone, Wertsachen wurden beschlagnahmt, wir
durften keine Geschäfte mehr führen, der Kauf von Büchern und Zeitungen, der
Besitz von Fahrzeugen wurde verboten, die Benutzung der öffentlichen
Verkehrsmittel und das Einkaufen von Lebensmitteln eingeschränkt. Die Nazis
führten den "Judenbann" ein, das heißt, die Juden durften bestimmte Straßen,
Orte, Einrichtungen in der Stadt (wie Theater, Kinos oder Badeanstalten)
nicht mehr betreten. Wer keinen jüdischen Vornamen besaß, mußte den
Zusatznamen "Sara" bzw. "Israel" annehmen, und in den Paß wurde ein J
gestempelt. Der Zutritt zu "arischen" Schulen, Hochschulen und anderen
Bildungsstätten wurde völlig verboten, ebenso eine Vielzahl jüdischer
Organisationen. Und wenig das, für die Reparatur dessen, was verwüstet
worden war, mußten die Juden auch noch zahlen - dazu als "Sühne" eine
Milliarde Reichsmark an die deutsche Regierung. Ein "Arbeitsamt für Juden"
wurde eröffnet, um dirigieren zu können, wo und unter welchen Bedingungen
wir von nun an arbeiteten.
Erich Nehlhans hatte sich in den letzten Jahren einen kleinen Versandhandel
für Postkarten aufgebaut, mit Kunden im Umland von Berlin. Einmal im Jahr
besuchte er alle und nahm ihre Bestellungen auf, auch 1938. Jetzt wußte er,
im nächsten Jahr würde er nicht mehr fahren können. Also schickte er allen
Kunden, die Karten bei ihm bestellt hatten - zwölf Brandenburger Tor zum
Beispiel -, statt des bestellten Dutzends gleich zehn Dutzend, dazu einen
Brief: "Im nächsten Jahr werde ich Sie nicht mehr beliefern können."
Tatsächlich kauften die allermeisten seiner Kunden auf Vorrat bei ihm ein
und bezahlten brav die Rechnung - welch glimpfliche Form der
Geschäftsauflösung. "Typisch jüdisch", lachte meine Mutter, halb bewundernd.
Gegen Ende des Jahres, als Barkowsky endgültig zumachte, meinte Nehlhans zu
mir: "Gerhard, ich habe neulich mit einem Vetter gesprochen, der ist
Vertreter für eine deutsche Kartonagenfabrik, und er sagte, schick den
Kleenen mal vorbei, der könnte für uns passend sein." So landete ich bei
Alfred Lindau.
Die Firma Lindau war mein erster richtiger Arbeitsplatz, nicht weit von zu
Hause; mit geringem Lohn, aber auf jeden Fall war es mehr, als ich zum
Schluß bei Barkowsky bekommen hatte. Kartonherstellung ist eine primitive
Form der Fabrikarbeit, und dementsprechend waren auch die anderen Arbeiter.
Die Leute, denen ich dort begegnete, kamen mir größtenteils leicht debil und
ungeheuer amoralisch vor. Ihr Leben war langweilig, ihre Arbeit genauso,
fast alle waren junge Menschen, und sie hatten nur eins im Kopf: Bumsen.
Ich mußte Kartons falzen oder nieten, Fächer aussägen und ähnliches. Klein,
sportlich und wendig, erledigte ich all das besonders schnell; die Kollegen
unterbrachen manchmal ihre Arbeit, um sich den Kleinen anzuschauen. Ich war
beliebt bei ihnen. Lindau, der Chef, war ein typischer Berliner, freundlich
und ebenso schlicht wie sein Personal. Er packte kräftig mit an und trug oft
selber die schweren Stapel Pappen, aus denen die Kartons gefertigt wurden.
Es gab dort einen Jungen, der sich mir besonders eingeprägt hat. Er hieß
Herbert, sah ganz fesch aus und lebte nur für den Sex. Er kam schon morgens
geil an und verkündete lauthals: "Guckt mal, heute morgen ist mein Schwanz
wieder gar nicht zu bändigen!" Und wann immer sich eine Gelegenheit ergab,
ging's zur Sache. Von den vier oder fünf Mädchen, die bei Lindau arbeiteten,
bedrängte er pro Tag nicht nur eine. Auch unter den Männern wurde kräftig
gefummelt, und wenn Herbert gerade danach war, kam ich genauso an die Reihe.
Mir ging es ähnlich wie den Mädchen: Ich fand ihn zu grob, und das Ganze war
mir unangenehm. Zu der Zeit war ich noch recht unerfahren, und Zärtlichkeit
entspricht mir sowieso mehr. Wenn er sich auf den Pappen im Keller wieder
ein Opfer vornahm, flossen oft Tränen.
Das störte ihn wenig; er wußte, die Männer untereinander hielten zusammen.
Es wäre zwecklos gewesen, wenn ich mich beschwert hätte. Lindau wußte
bestimmt, was da lief - immer wenn er nach unten ging, pfiff er vorher, zur
Warnung -, aber er griff niemals ein. Er mochte ein gutes Herz haben,
feinfühlig war er nicht gerade.
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